Sitze gerade im Zug auf dem Heimweg vom diesjährigen DOC-Kongress in Nürnberg, den ich mit meinem OP-Team seit Mittwoch besucht habe.
Wie immer eine Melange aus aktueller Wissenschaft, Praxisinformation, Networking und Fachmesse zur Akquise von Medizintechnik und Verbrauchsmaterialien.
Klasse waren natürlich - wie jedes Jahr - die Schäuferla bei Bratwurst-Röslein!
Nun denn, ich wollte schon letzte Woche mit meinen Anmerkungen fortfahren, was jedoch aus zeitlichen Gründen nicht gelang.
Dass sich hier nach wie vor Interesse erkennen lässt, freut und motiviert mich. Zunächst will ich versuchen, mit einigen Missverständnissen aufzuräumen.
Immer wieder erlebe ich hier, dass anekdotische Erfahrungen mit dem Zweck mitgeteilt werden, Fragestellern eine Hilfestellung in Bezug auf deren eigene anstehende Entscheidung für oder gegen irgendeine (ophthalmo-)chirurgische Prozedur zu geben.
Dabei ist mir völlig klar, dass dies im besten und ehrlichen Bestreben geschieht, dem Anderen eine unmittelbare und nicht von eigenen Vorteilsstreben gelenkte Entscheidungshilfe zu geben. Weiß Gott ehrenwerte Motive also!
Aaaber:
Leider ist dies dennoch in der Realität nicht zielführend, bzw. der seitens des Tipempfängers durch die Empfehlung zu erzielende Nutzen nahezu null.
Warum ist das so?
Nun, die Menge der relevanten und hinsichtlich einer Therapieentscheidung zu beachtenden Einflussgrössen ist enorm und weitaus größer, als der Umfang, welcher hier diskutiert werden kann.
Grundsätzlich kann nur Gleiches mit Gleichem verglichen werden….und damit, tatsächlich zu beurteilen, wann etwas oder inwiefern Umstände, Voraussetzungen oder Situationen gleich oder ungleich sind, ist der Laie hoffnungslos überfordert.
Das führt dazu, dass eine Aussage in der Art wie: „Habe dies oder das bekommen, hat bei mir super oder gar nicht gefunzt und bin sehr oder aber überhaupt nicht zufrieden.“ in aller Regel nicht auf die individuellen Verhältnisse des Fragestellers anzuwenden ist und diesem daher eben auch nicht weiterhilft.
Dies bezieht sich zunächst einmal auf die objektiv vorliegenden medizinischen Befunde und wird üblicherweise recht schnell hingenommen und geglaubt.
Was allgemein vollkommen unterschätzt und eben oft auch nicht nachvollzogen wird, ist, wie unterschiedlich die individuellen Einschätzungen und Beurteilungen sowie Vorlieben und Befürfnisse unterschiedlicher Menschen sein können!
Der Volksmund beschreibt dies mit dem Sprichwort: „Watt den Een sin‘ Uhl, is‘ den Annern sin‘ Nachtejall.“
Meist wird angenommen, dass das, was ich selbst als "gutes Sehen" empfinde, auch von allen anderen Menschen in gleicher Art und Weise beurteilt wird; dass es also gewissermaßen so etwas wie einen objektiven "Urmeter" visueller Empfindung gebe, welcher verbindlich definiert, wann ein Seheindruck als "gut" zu bezeichnen ist.
Dies ist aber mitnichten der Fall!
Einfachstes Beispiel dafür ist die Änderung lebenslanger Sehgewohnheiten in Folge cataract- oder refraktiv-chirurgischer Maßnahmen. Selbst wenn wir ausschließlich über monofokale IOL reden, so ist es dennoch bereits von größter Relevanz, im Vorfeld eine sehr genaue Vorliebenanamnese zu erheben und sich einen Überblick über die Bedürfnisse und Gewohnheiten des Patienten zu verschaffen. Von sich aus mitteilen wird er/sie sie nicht, denn er/sie ist ja felsenfest davon überzeut, sich ja lediglich das zu wünschen, bzw. zu erwarten, was JEDER in gleicher Situation befindliche Mensch sich wünscht - und kann sich überhaupt nicht vorstellen, wie weit die Vorlieben und Ansichten da divergieren.
Einen lebenslang drei Dioptrien kurzsichtigen Patienten, der die letzten Jahre bereits fortgeschritten presbyop, also alterssichtig, verbracht und sich seinesr stets ausgezeichneten Sehschärfe beim Handydaddeln zwischen 30 und 40 cm Entfernung erfreut hat ungefragt mittels Linsentausch emmetrop, also normalsichtig, zu machen, kann böse nach hinten losgehen!
Da ist dann nix mit "Danke, Herr Doktor, dass ich jetzt Autofahren kann ohne Fernbrille....", sondern da kommt u. U.: "Sie haben mir mein Sehen völlig ruiniert!", worauf man dann entgegnet: "Aber Sie haben einen super Fernvisus auf der Fünfmetersehstrecke von 1,0 (="100%"), das ist absolut klasse!", worauf die Gegenseite dann völlig ungerührt antwortet: "Das ist doch völlig unwesentlich! In der Ferne trage ich ohnehin eine Brille (Anmerkung: Ah! Er hat noch gar nicht verstanden, dass das eben jetzt nicht mehr der Fall ist!), deswegen ist das egal. Ich kann mein Handy aber nicht mehr erkennen (Anmerkung: Ja, ohne adäquate Nahbrille, aber das hat er auch noch nicht verstanden, da er bisher noch nie eine solche benötigte aufgrund seiner Kurzsichtigkeit) und das finde ich doof!"
Ihr seht: Man muss sich sorgfältig in die völlig unterschiedlichen Sehgewohnheiten z. B. von Kurz- und Weitsichtigen hineinversetzen und detailliert mit ihnen besprechen, was sie sich wünschen sowie erklären, was geht.
Analoges gilt auch für Astigmatismen, also Unrundheiten des brechenden Systemes, deren Minimierung eigentlich einer Abbildungsqualitätsmaximierung als sehr zuträglich angesehen wird. Wehe aber dem, der bei einem in dieser Hinsicht empfindlichen Patienten eine deutliche Drehung der Astigmatismusachse oder einen Vorzeichenwechsel bewirkt. Das kann zu viel "negativer Chairtime" und ggf. sogar zu einer Revisionserfordernis führen.
Einen mich seinerzeit erstaunenden Fall, der schon sehr lange zurückliegt möchte ich abschließend schildern.
Eine hochbetagte Patientin stellte sich mit sehr fortgeschrittener tiefbrauner Cataract und konsekutiv bereits stark in Mitleidenschaft gezogenem Visus von lediglich noch 0,2 bds. (das ist echt schlecht, Zeitungsdruck lesen kann man noch bis etwa 0,4 und Autofahren unter bestimmten Umständen bis minimal 0,5) vor. Die Indikation war eindeutig, da gab`s nix zu deuteln und nach umfangreicher Aufklärung über alle möglichen operativen Risiken und physikalisch-sehphysiologischen Folgen der OP habe ich diese komplikationslos durchgeführt.
Ich sah die Frau bei einer postop. Kontrolle etwa eine Woche nach der zweiten OP wieder, sah in der Akte: Visus bds. 1,0 - das ist exzellent und weiß Gott aus vielerlei Günden nicht jeder Endachtzigerin gegeben - und beglückwünschte sie zu dem ausgezeichneten Ergebnis.
Daraufhin fängt sie umgehend zu keifen an: "Nichts ist gut, ich bin todunglücklich, meine ganze Freude haben Sie mir genommen!"
"Um Gottes Willen, was ist denn bloß los? Gemäß der heutigen Sehschärfenprüfung sehen Sie nicht nur für Ihr Alter, sondern ganz allgemein wirklich hervorragend!"
"Ich kann überhaupt nicht mehr normal gucken, alles haben Sie mit Ihrer OP vergurkt! Ich sehe jetzt alles völlig unnatürlich, künstlich und nicht mehr, wie es sein muss! Mein langjähriges Hobby, meine Leidenschaft, ist mein wunderbarer Garten, der immer so schön war, und in dem ich jede freie Minute mit meinen herrlich blühenden Staudenbeeten verbrachte. Diese Blumen kann ich mir jetzt nicht mehr angucken, denn sie haben all ihre Schönheit verloren. Sie sind jetzt von völlig unnatürlicher schreiender Farbigkeit, grell-neongelb, giftgrün, signalorange und -rosa! Überhaupt nicht mehr dieses wunderbare gedeckte sepiafarbene wie zuvor. Außerdem ist es mir viel zu hell...."!
Ich wusste im ersten Moment tatsächlich nicht, ob sie mich verklapsen wollte.... aber sie meinte das tatsächlich ernst und hatte - trotz m. E. nach wirklich guter und vollständiger Aufklärung! - überhaupt nicht verstanden, worum es ging. Ihr objektiv ausgezeichnetes Ergebnis konnte sie überhaupt nicht wertschätzen, da sie (selbstverständlich nach Abstimmung mit ihr, aber sie hatte eben nicht verstanden, worum es ging) optimal für die Ferne (also 5 m bis unendlich) auskorrigiert war, sich aber nur mit Sehobjekten im Nah- und Intermediärbereich (30-100 cm) beschäftigte und einfach nicht nachvollziehen konnte, dass die OP sie keineswegs nach Barbieland verfrachtet hatte, sondern dass sie jetzt einfach die Welt, die die ganze Zeit für alle anderen genau so geblieben war und entsprechend wahrgenommen wurde, wieder durch klare Linsen betrachten konnte.
Ich empfahl ihr eine nach Wahl getönte Brille und hoffe, dass sie mit zunehmender Entwöhnung von ihrer jahrzehntelangen kataraktischen Beeinträchtigung letztendlich doch noch die Fähigkeit gewonnen haben möge, dieses besondere und alles andere als selbstverständliche Geschenk der Natur auch im hohen Alter noch zu einer derartig guten Sehschärfe befähigt zu sein, wertschätzen und genießen zu können.
So, zwischenzeitlich sind wir auch längst wieder in heimatlichen Gefilden angekommen und die Hälfte des Textes habe ich bereits wieder daheim am Laptop geschrieben.
Jetzt möchte ich erstmal ein wenig Fußball-EM gucken, denn es läuft gerade Türkei vs. Portugal.
Mal sehen, ob ich in den nächsten Tagen mal dazu komme, Euch den grundlegenden Unterschied zwischen Refraktion (optischer Brechungskorrekturbedarf) und Visus (Sehschärfe - den Begriff namens "Sehstärke" gibt es in der Augenheilkunde nicht und er lässt mir immer Gänsepelle auf dem Rücken entstehen, da überhaupt nicht definiert ist, was damit gemeint ist) näher zu bringen und den von Mogelmaus inhärent hergestellten Zusammenhang mittels Amslernetzes detektierbarer Pathologica (Verzerrtsehen/Metamorphopsien infolge makulärer Schwellungen) und subjektive Sehstörungen durch fortgesetzte Visusanforderung im Nah- und Intermediärbereich (mit akkomodativer Überlastung) aufzulösen, denn die haben miteinander hinsichtlich ihrer Ätiologie nichts zu tun.
Horrido für heute,
M.