Wenn ich mich nicht irre, kommt es bei Rehwild auch in Regionen ohne winterliche Nahrungsknappheit und spätwinterlicher Kälte zur Unterbrechung der embryonalen Entwicklung (Eiruhe). Eigentlich eine recht unflexible Strategie für eine Art mit starkem Verbreitungspotenzial.
Von allen in meinem Erfahrungsbereich vorkommenden Schalenwildarten reagiert Rehwild am wenigsten dynamisch auf antizyklische Umweltreize. Man könnte meinen, dass gerade diese Eigenschaft dazu führt, dass Rehwild trotz ständig sich verändernder Lebensräume und Lebensbedingungen ständig fast überall vorkommt. Ich kenne Neubaugebiete, dort führen die Rehe ein friedliches Dasein zwischen Vorgärten und verwilderten Baugrundstücken. Vor fast zwei Jahrzehnten wuchsen dort noch Obstbäume und Feldgehölze und die Rehe scheinen sich mit der neuen Umgebung arragiert zu haben.
Dichten wir also dem Reh nicht Empfindsamkeiten und Schwächen an die es definitiv nicht hat. Fürs Überleben ist diese Wildart eher mit der Fähigkeit des Überlebens als mit sensibler Anpassung ausgestattet, also eher Generalist als Spezialist.
Diese Erkenntnis sollte auch jagdpraktisch beherzigt werden. Die Beschränkung auf den Schutz der Muttertiere/führende Geißen während der für die Kitze lebensnotwendigen Aufzuchtphase ist ein Mindeststandard der sich aus rechtlichen und moralischen Gründen ergibt. Die moralische Diskussion des Themas ist wichtig, aber jagdpraktisch irrelevant. Die vom LJV BaWü herausgegebenen Empfehlungen (sie Beitrag von Baffi) sind dafür eine gute Richtschnur. Wer die ethische Meßlatte höher legen will, kann das persönlich gerne tun oder sich in den Verbänden und Gremien engagieren und seine Vorstellungen einbringen.
Dem Threadstarter gratuliere ich zur selbstkritischen Einstellung und wünsche ihm immer das Gespür für die richtige Entscheidung.
Hi,
sehr gut gesagt.
Problem aber ist, dass die vom LJV-Ba-Wü gelegte ethische Messlatte vom LJV sehr flott versteckt werden musste, weil eben eine Mehrheit die Messlatte höher gehängt haben will.
Eine Mehrheit, der im bisherigen Planwirtschaftssystem mit Vorgabe 10/10/14 für B/G-SR/K es leicht gefallen ist, erlegte 15 Böcke/ 2 Schmalrehe und eine überfahrene Geiß sowie je 5 weibl. und männl Kitze - also 23 Stück und vom weibl. Abschuss nur 50% der Vorgabe - mittels Geschlechtsumwandlung, erfundenen Abschüssen und großzügig unterstellten vermähten Kitzen besten Gewissens auf die 34 hochzulügen, jahrzehntelang.
Und solche Leute schmeißen heut noch Jungjäger raus, die ein Triplett entnehmen, befeinden heute noch Nachbarn, die auf der Bewegungsjagdstrecke 1/4 Geißen liegen haben, giften jeden ordentlichen Weidgenossen, der im Januar noch 2 Geißen erlegt, als "Unwaidmännisch" an.
Denn genau das hab ich in Serie erlebt, über zu viele Jahre - als pietistisch imbibierter Korrektling, der einfach brav das liefern wollte im väterlichen Revier, was die Obrigkeit vorgegeben hatte. Hass pur, Gegenwind bei Stöberjagd via Achillesferse überjagender Hunde, Protestschüsse in die Luft bzw. durch meinen Hochsitz...
Die Arroganz der Einzigartigkeit deutschen Waidwerks ruht genau auf diesem Nützlings-Muttertierschutz. Immer dabei: feixende Freude an international unübertroffenen Wildständen und kompletter Ausblendung solcher Ethik bei den rrücksichtslos zu bekämpfenden "Schädlinge". Wunderschön in Artikeln des Ulli Scherping, völlig ungebrochen weitergeschrieben in den - Muttertierschutzdenke als unser hochethisches Alleinstellungsmerkmal weiteronanierend - des Paul Müller ( der bei Verletzung dieses Ehrgefühls selbst dem Elefanten noch furchtlos schießend entgegentritt, über wahllos auch Muttertiere tötende südamerikanische / Aboriginees kotzte).
Die Sentimentalitäten am Rehwild gehen nur mit dieser Apartheid-Denke.
Wenn dieselben Leute etwa davon reden, "zu jeder Zeit und auf jede Entfernung jeden Fuchs zu beschießen", wenn sie von März bis Mai nicht die Schwarzwildjagd komplett ruhen lassen können, wenn sie (mein frischester Eindruck) im September einfach doch paar Täubchen erlegen müssen. Wenn keiner sich nen Kopf macht bei der Mais-Drückjagd, dass jedes Stück über Kniehöhe eben schon wieder laktierende Zitzen haben kann, dass ab ersten Anzeichen für laufende Ranzzeit der erlegte tolle Fuchsrüde ein nunmehr fehlendes sorgend-aufzuchtswichtiges Elterntier sein kann. Oder bei "Entnahme" von adulten Dachsen, die ja richtig brav monogam sind und wo die Dächsin wie die Rehgeiß dank Eiruhe stets entweder schwanger oder führend oder beides gleichzeitig ist.
Wer die wutschnäubende Muttertierschutzgerechtigkeit konsequent durchziehen will, der muss auch für das flotte Durchziehen kontrazeptiver Maßnahmen beim Schwarzwild sein / für Selektivculling in Saufängen und ansonsten absolutes Energieinpueinstellen -> Kirrverbot. Und solch ein Jäger kann niemals Geißen erlegen, weil selbst beim hübschesten Triplett droht, dass doch ein drittes Kitz faul am Waldrand rumtrödelt und nun darben müsst.
Und er muss dann letztlich klar bekennen, dass mit solch hochethischen Jagdprinzipien bei keinerlei Wild irgendwelche nennenswert effektive jährliche Reduktion der Reproduktionsträgerinnen zu bewerkstelligen ist - mithin das Primat der Herstellung angepasster Wildbestände und die ökonomische wie ökologische gesellschaftliche Rechtfertigung der Notwendigkeit der Jagd Schall und Rauch ist.
Ohne harte Normen wie "ab 16.November ist ein alleinziehendes Reh zum Abschuss frei - selbst wenn nachher ne führende Geiß liegt" oder "im frühwinterlichen Schnee nehmen wir auch die Erlegung einer doch laktierenden Bache in Kauf" können wir nicht erfolgreich und zielführend jagen. So wie wir bei jeder Schussabgabe einen treffpunktabweichenden Dreck im Lauf, wüsten Treffer und frustrane Nachsuche eben immer doch auch als Restrisiko in Kauf nehmen und trotzdem abdrücken, schuldig werden...und hernach doch weiterjagen werden.
Wer dies bestreitet und stets strafbewehrte 100%-ige Tier- und Muttertierschutzgerechtigkeit in der Jagdpraxis einfordert: ist extrem selbstgerecht, sägt an sämtlichen Beinen der Legitimationen unserer letztlich anarchischen Passion. Und echt gejagt kann er nicht haben, ein Weidgenosse i.e.S. wird er niemals werden.
Und gutnobrains scheinbar zynisches "Profit-vor-Bambi"-Spruch ist auf jeden Fall in bester pietistischer Tradition anzufügen, dass man überhaupt nicht leben kann, ohne dabei schuldig zu werden. Selbst wenn man sich ausschließlich von herabgefallenem Obst vom Boden ernährt, es den lieben Mitgeschöpfen als Nahrungsgrundlage raubt und diese mit jedem Schritt zertrampelt.
Gruß,
Martin