Linken-Chef Oskar Lafontaine wühlt gern in der Vergangenheit. Bevorzugt in der von Angela Merkel, der er immer wieder ihr "FDJ-Hemdchen" vorhält. Dabei hat seine Biografie selber eine große Nähe zum SED-Regime. Lafontaine ist quasi in die Fußstapfen des letzten DDR-Diktators getreten.
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Deshalb überrascht der strenge Maßstab, den der Westdeutsche Lafontaine an die Ostdeutsche anlegt. In den eigenen Reihen urteilt er milder und stellt sich beispielsweise demonstrativ hinter seinen Co-Fraktionschef Gregor Gysi, obwohl Dokumente nahelegen, dass dieser als DDR-Anwalt seine Mandanten verraten hat. Gysi bestreitet das.
Zu Hans Modrows jüngst veröffentlichtem Memoirenband "In historischer Mission" steuerte Lafontaine ein Vorwort bei, obwohl der Ehrenvorsitzende der Partei als langjähriger SED-Bezirkschef von Dresden dem inneren DDR-Führungszirkel angehörte und Anfang der Neunziger wegen Anstiftung zur Wahlfälschung vor Gericht zur Verantwortung gezogen wurde. Seinem Fraktionskollegen Diether Dehm, der als Frankfurter Kulturmanager nicht nur den aus der DDR ausgewiesenen Liedermacher Wolf Biermann an den Ost-Berliner Geheimdienst verraten hatte, erspart der Linken-Chef ebenfalls öffentliche Vorhaltungen.
Dass Lafontaine, Jahrgang 1943, ganz offenkundig auf einem Auge blind ist, hat vermutlich nicht zuletzt mit seiner eigenen Biografie zu tun. Sie ist durch eine übergroße Nähe zum SED-Regime gekennzeichnet. Schon in jungen Jahren ließ er gebotene Distanz vermissen. 1968 schickte Ost-Berlin rund 2000 Reisekader in die Bundesrepublik, um dort Kontakte zu "progressiven Kräften" zu knüpfen.
Im März und Oktober klingelten auch bei Lafontaine zwei Funktionäre. Sie kamen aus Cottbus und waren begeistert. "Steht sehr links", meldeten sie dem Zentralkomitee. Der Jungsozialist und Student der Physik wünsche die "Zusendung der Bände Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und Marx/Engels Gesamtausgabe" und habe vernünftige Ansichten, etwa zur Niederschlagung des Prager Frühlings: "Er brachte zum Ausdruck, dass er für das Eingreifen der verbündeten sozialistischen Länder Verständnis habe."
Diese Überlieferung findet sich im schriftlichen Nachlass der SED. Dort stößt man auch auf eine bezeichnende Episode, die sich im August 1981 ereignete. Da war Lafontaine schon Oberbürgermeister von Saarbrücken und empfing einen DDR-Diplomaten. Ihm erklärte er unvermittelt, dass Erich Honecker im Falle eines bald zu erwartenden Besuchs der Bundesrepublik doch bestimmt auch in seine saarländische Heimat reisen werde.
Sollte es dazu kommen, wäre es für ihn nicht ratsam, mit dem Ministerpräsidenten Werner Zeyer zusammenzutreffen. Denn der Christdemokrat sei ein Antikommunist durch und durch. Zugleich äußerte Lafontaine den Wunsch, selbst einmal den SED-Generalsekretär zu treffen. Die Bitte wurde prompt erfüllt, im März 1982 kam es zum ersten Gipfeltreffen. Es war der Beginn einer wunderbaren politischen Freundschaft.
(Grzr: 1982 war u.a. Lafontaine für die Spaltung der SPD mitverantwortlich, was zu einem Regierungswechsel führte.)
Als Lafontaine 1984 zum saarländischen Regierungschef aufstieg, legte sich Honecker mächtig für ihn ins Zeug. Auf seine Initiative hin steigerte die DDR ihre Importe aus dem Saarland bereits im Jahr 1985 um satte 165 Prozent auf 134,7 Millionen Mark. Ost-Berlin kaufte Steinkohle, Stahlprodukte, Konsumgüter und 10.000 Autos des Typs Ford Escort aus dem Werk in Saarlouis. Für das krisengeschüttelte Bundesland im Südwesten war das ein Segen und Lafontaine zeigte sich seinerseits erkenntlich.
Als erster Ministerpräsident stellte er 1985 die Zahlungen seines Landes für die Erfassungsstelle Salzgitter ein, die Menschenrechtsverletzungen in der DDR systematisch dokumentierte. Im selben Jahr forderte er die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, woraufhin er von der Bonner SPD-Führung in die Schranken gewiesen wurde.
Den Sonderbeziehungen zwischen Saarbrücken und Ost-Berlin nahmen dadurch keinen Schaden. Erstaunt stellte die "Zeit" fest, die DDR gehe mit dem Saarland so um, als sei es nicht Teil der Bundesrepublik, sondern ein selbstständiger Staat. Von 1982 bis 1989 empfing Honecker gleich neunmal Lafontaine. Einzig Herbert Mies, Chef der von der SED alimentierten DKP, wurden geringfügig mehr Audienzen gewährt.
Über Lafontaines DDR-Besuche führte die Stasi fleißig Buch. Dazu hat die Birthler-Behörde mit Einwilligung des Politikers nun 227 Seiten freigegeben. Die Unterlagen zeigen, dass der SPD-Hoffnungsträger überaus zuvorkommend behandelt und ihm ein besonderes Privileg zuteil wurde. "Keine Befragung der Persönlichkeit und ihrer Begleitung nach Waffen und genehmigungspflichtigen Gegenständen", notierte der Stasi-Oberst Redel am 10. August 1987 zum Umgang mit Lafontaine bei der Ein- und Ausreise.
Wenige Tage darauf überraschte Lafontaine die Öffentlichkeit, als er auf gleich sieben "Spiegel"-Seiten Honecker zum 75. Geburtstag gratulierte. Der SED-Chef wird in der Eloge als fröhlicher, aufrichtiger, verlässlicher und prinzipienfester Mensch vorgestellt, der viel für die Bürger seines Landes erreicht habe und dem deshalb aller Respekt gebühre - auch und gerade vom "antikommunistisch voreingenommenen Publikum" in der Bundesrepublik. Nie zuvor ist der Ostberliner Machthaber von einem deutschen Sozialdemokraten derart gewürdigt worden.
Lafontaine galt lange als politischer Enkel von Willy Brandt. Der linke Berliner Sozialdemokrat Harry Ristock bezeichnete ihn im März 1987, ausgerechnet im Gespräch mit einem hohen SED-Funktionär, sogar als "Doppel-Enkel" - als Enkel von Brandt und Honecker gleichermaßen. Brandt allerdings hat sich später von Lafontaine distanziert und diesem drei Monate vor seinem Tod im Oktober 1992 bei einem Treffen mit Kanzler Helmut Kohl Versagen nach der friedlichen Revolution in Ostdeutschland vorgworfen.
Brandt brach mit Lafontaine also lange bevor dieser mit der Sozialdemokratie brach. Den Saarländer als legitimen Enkel des Saarländers Honecker zu sehen, hat hingegen nach wie vor eine gewisse Plausibilität. Als Chef der Linken, einer Partei mit SED-Vergangenheit, ist er sozusagen in die Fußstapfen des letzten DDR-Diktators getreten. Auch ohne jemals wie Angela Merkel das "FDJ-Hemdchen" getragen zu haben.