Das letzte Einhorn
„Du gehst wieder auf den Wagen; mal gucken ob der vom letzten Jahr noch da rumspringt!“
Wagen? Der vom letzten Jahr? Na, klasse!
Peter hat mich für den Wagen eingeteilt, an diesem Morgen des 1. Mai. Es ist nicht wirklich kalt, aber von Wärme zu sprechen, wäre ebenfalls übertrieben. Also gut, auf zum Wagen. Eben jener hat seinen Namen eigentlich nicht verdient, da es sich um eine fahrbare Schlafkanzel handelt, die sowohl selbst gebaut ist als auch eher einem Wohnzimmer ähnelt. Hier setze ich mich gerne an, so wie ich es bereits in der Blattzeit des vergangenen Jahres getan hab. Man berichtete mir von einem Bock der seit einiger Zeit dort seinen Einstand habe und sich perfekt als erstes zu erlegendes Stück Schalenwild eigne. Er habe nur eine schwache Stange, das Wildbret hingegen ließe auf ein Alter jenseits des Jährlings schließen. Also machte ich mich auf den Weg den haarigen Gesellen, von eben jenem Wagen auf die Decke zu legen.
Lange Rede kurzer Sinn: Im Jahr 2015 war es mir nicht vergönnt, den Bock zu strecken, ich bekam ihn bei perfektem Büchsenlicht ins Glas und konnte ihn auch sauber als den Angepriesenen ansprechen. Lediglich die Entfernung zum Stück gepaart mit einer unbeschreiblichen Attacke schrecklichen Jagdfiebers ließ mir Diana nicht milde gestimmt sein, weshalb ich die Blattzeit 2015 ohne Beute verstreichen lassen musste. Am fahrbaren Wohnzimmer kann es nicht gelegen haben, hier ist für jede Art von Schützen in jeder Gemütslage an alles gedacht. Allein des Jungjägers Kopf und zittrige Hand, waren hier die limitierenden Faktoren.
Genug des Exkurses, zurück in die Gegenwart
Ich machte mich also wieder einmal auf den Weg, an die Stelle die doch nicht viele glückliche Momente für mich verhieß. Doch einerseits trieb mich natürlich der Jagdinstinkt und andererseits das Begier zu wissen, ob der genannte Bock immer noch dort umherzog. Musste er sich doch circa ein Jahr zuvor mächtig erschrocken haben…
Ich richtete mich also ein und rauchte zum Ankommen, recht unwaidmännisch, eine Zigarette, um die Situation auf mich wirken zu lassen: Das Maisfeld lag, wie üblich am 1. Mai, noch recht brach da, weshalb ich eine tolle Weitsicht durch das Sauerland genießen konnte. Es war noch sehr früh am Morgen, sodass nicht einmal die typischen ‚Before-Work-Jogger‘ mit ihren Hunden unterwegs waren. Majestätische Ruhe weit und breit. Ich löschte die Zigarette im eigens dafür in die Kanzel integrierten Gurkenglas und lehnte mich zurück.
‚Man könnte ja auch mal nach rechts aus dem Fenster gucken, auch wenn es sich hier um eine ständig frequentierte Pferdewiese handelt‘, hörte ich mich noch denken, als ich den Kopf Richtung Fenster drehte.
Zehn Meter, höchstens. Da stand er wieder, der noch recht fahl aussehende Geselle. Das Wildbret ließ direkt vermuten, dass es sich um den erhofften Wiederkehrer handelt. Es war jedoch noch nicht genug des Tageslichtes um den Kopfschmuck ergiebig inspizieren zu können. Diese Möglichkeit ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Es waren gefühlte zehn Minuten und ich konnte, ohne jeglichen Einsatz des Glases, auf nun 20 Meter eräugen, was ich schon im letzten Jahr in das Berichtsheft schreiben konnte.
Links eine Stange, mittlerweile lauscherhoch; rechts kein Rosenstock zu erkennen; Körperbau und Wildbret: passt, das ist er.
Es musste der Bock vom letzten Jahr sein, und so schossen mir sofort alle möglichen Gedanken durch den Kopf.
Wie? Was? Wann? Wo? Wohin? Wer? Wie viele?
Ich dachte wirklich über alles nach. Er ließ mir auch viel Zeit dabei, dennoch musste ich handeln, wenn ich es denn für richtig hielt. Da ich mich an seinen Weg erinnerte, den er im letzten Jahr nahm, konnte ich mutmaßen dass ich noch etwa zehn bis 15 Meter ‚Zeit‘ hätte, ihn zur Strecke zu bringen, so mir denn Diana hier im Sauerland an diesem Tage holder sei.
Diese Überlegung, im Bruchteil einer Sekunde stattfindend, eröffnete in mir wieder das bekannte Jagdfieber, ich schaffte es jedoch dies mental zu bündeln und wenigstens nicht komplett zittrig die Waffe aufzunehmen. Jeden Schritt dieses Vorgangs; aufnehmen, anbacken, richtig hinsetzen; beendete ich mit einem tiefen Atemzug, sodass das Zittern auch weiterhin in einem erklecklichen Maße gehalten werden konnte.
Ich blickte durch mein Absehen und sah ihn in kurzer Distanz, scheibenbreit äsen.
05:37 Uhr: ‚Du sollst es wohl sein‘, dachte ich und atmete noch einmal tief ein, ehe ich das Sicherungsrädchen meines Mannlicher-Repetierers auf Rot schob und der rechte Zeigefinger sich langsam auf dem Abzug niedertat.
05:38 Uhr: Der Nachhall der 8x57 ist noch deutlich in den Anhöhen zu vernehmen, das Mündungsfeuer ist einer Rauchwolke gewichen, beim Blick durch das Absehen ist ein letztes Aufbäumen des Bockes zu sehen. Dann folgt Stille, und das zuvor noch im Zaum gehaltene Jagdfieber entlädt sich ebenso explosionsartig wie der zuvor getätigte Schuss. Bereits beim Repetieren merke ich, wie schweissgebadet meine Handinnenflächen sind. Ein letzter Blick, keinerlei Regung ist zu vernehmen. Somit sichere ich die Waffe und lege sie wieder an ihren Platz.
Ich muss aufpassen, um nicht die ganze Schachtel Zigaretten leerzuschütteln, bei dem Versuch eben jene obligatorische zu entnehmen. Mein erster Bock. Wieder stellen sich mir Fragen.
War das alles so richtig? Habe ich ein Messer dabei? Soll ich jetzt schon die Waidgenossen informieren? Eine SMS an meinen Vater senden? Wie war das noch mit dem Aufbrechen?
Das mache ich, eine SMS an meinen Vater, der unweit von mir eine andere Kanzel erklommen hat. Ich habe den Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, da klingelt bereits das Telefon: „Hast du geschossen? Liegt er? Alles gut?“ „Ja. Ja. Nein“, antworte ich, da ich gefühlt vor einem Herzinfarkt stehe. Hektisch entzünde ich noch während des Telefonats die nächste Zigarette. Langsam beruhige ich mich wieder, und auch die Information, dass er mich in der nächsten Stunde samt Bock abholen wird, bringt Ruhe in meinen immer noch komplett angespannten Körper.
Endlich aufgeraucht, begebe ich mich von der Kanzel zu meinem ersten erlegten Bock.
Jetzt ist alles gut, es ist das letztjährig bereits bestätigte letzte Einhorn…