Der Kerl ist ein unberechenbarer Despot, nicht mehr und nicht weniger.
Im Mai habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin nach Russland gefahren. Mit dem eigenen Auto. Eine Woche. Kein Hotel. Übernachtet bei jedem, der es mir freiwillig angeboten hat. Ziel: so tief in den russischen Alltag eintauchen, wie nur irgend möglich. Ich wollte herausfinden, ob ganz Russland von Propaganda überzogen ist.
Ich wollte wissen, gegen wen wir da "kämpfen", sollte es zum Krieg kommen.
Und ich wollte mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören, ob da ein Land im extremen Nationalismus versinkt, ob es sich tatsächlich um eine Despotie - angeführt von einem Despoten - handelt. Ob sich hier ein Land eiskalt auf einen großen Krieg vorbereitet, den es selbst initiiert.
Meine Gesprächspartner und Gastgeber waren
- ein russischer Autohändler, der während seines Wehrdienstes in der DDR stationiert war - von 1988 bis 1990 - und so den Niedergang miterlebte
- ein jüdisch-russischer Englischlehrer, Sozialarbeiter und Maler
- ein russischer Politikwissenschaftler, der in Köln studiert hat
- die Witwe eines Russlanddeutschen aus Sibirien, ehemalige Ausbilderin von Biologiestudenten an der Universität von Kasan
- ein ausgewanderter Deutscher, der seit ca. 20 Jahren in Russland lebt
Daneben traf ich weitere Menschen, die mir kleinere oder tiefere Einblicke in den russischen Alltag gewährten, sah mir russische Talkshows an, eine russische Comedy-Sendung, russischen Fernsehkrimi, Tageszeitungen...
Was ich
nicht vorfand war:
- extremer Nationalismus
- Omnipräsenz russischer Symbole - z.B. russische Flagge an jedem zweiten Gebäude
- starke Militärpräsenz ... ich sah in der ganzen Woche kein einziges Militärfahrzeug
- extrem rabiate Staatsgewalt (z.B. Polizei) - im Gegenteil: freundlich, geduldig und in meinem Falle sogar "gnädig"
- ausschließlich vom Leben in Russland desillusionierte Menschen, die alle lieber im Westen leben würden
- regressive Politik, die das Leben unterdrückt und Entfaltung verhindert (hatte ich aber zu wenig Einblick)
Was zutrifft:
- die Menschen in Russland fühlen sich vom Westen in die Ecke gedrängt und sind teilweise nicht gut auf die USA zu sprechen
- Putins PR gelang es, die Definition von "russisch sein" an die eigene Partei zu knüpfen ... wer also gegen die Partei "das ist Russland" ist, ist gegen Russland
- je intellektueller desto näher dem Westen
- das Volk liebt Russland, weil es nicht soviel hat, was es sonst lieben kann
Was man auch sagen muss:
- die russischen Menschen sind absolut zuverlässig
- sie kennen nur eine Weise, einem etwas zu sagen: offen und ehrlich
- selbst Putins Kritiker geben zu, dass es den Menschen heute im Großen und Ganzen besser geht, als je zuvor (der einzige Unterschied ist, dass sie heute - im Gegensatz zu früher - über die Medien wissen, wieviel besser es ihnen immer noch gegen
könnte)
- die russische Regierung kann momentan nicht mehr soviel Geld für andere Dinge bereit stellen, weil sie das Geld zur Aufrechterhaltung des Militärs braucht
- nicht Russland wendet sich vom Westen ab, sondern der Westen zwingt Russland, sich andersweitig zu orientieren; so weist etwa die EU seit Jahren alle Bitten Russlands zurück, für den Oblast Kaliningrad Visafreiheit zuzulassen. Damit wird die Versorgung des Oblast deutlich erschwert. Investitionen bleiben aus usw.
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Und was oben verlinkten FAZ-Artikel betrifft: die Autorin ist keine Russin, sondern halb Ukrainerin, halb Weißrussin.