Mein Vater sagt immer: "Dich kann man auch auf den Hamburger Hauptbahnhof setzen. Da würdest du auch noch ne Sau erlegen!"
Ja, ich habe in meinen doch auch schon 20 Jagdjahren wahre Sternstunden erleben dürfen. Anlauf ohne Ende. Wo immer ich saß. Ob Blattjagd, Drückjagd oder Sammelansitze. Ich kam nie ohne Beute heim.
Bei meinem Vater verhielt es sich die letzten Jahre doch anders. Böse Zungen, und in einigen Fällen meine, behaupteten er würde auf dem Sitz schlafen und deswegen nie was sehen.
Die Gesundheit spielte die letzten beiden Jahre auch nicht mehr mit. Körperlich schwer gearbeitet hat er mit seinen 82 Jahren für drei. Wenn es denn langt. Rücken kaputt, sitzen geht nicht, stehen geht nicht, gehen geht nicht. Geschlafen hat er viel das letzte Jahr.
Gestern wurden dann auf unserem Hirschwechsel 5 verschiedene Hirsche zwischen 8-11 Uhr von der Funkkamera abgelichtet. Also den Alten gefragt ob er sitzen möchte. Ob es denn gehen würde. Ja, würde es. Er nimmt morgens einfach zwei Tabletten. Also gut.
Die Uhr zeigt bereits 06:10 Uhr. Wo bleibt er denn? Hat er verschlafen? Eigentlich ist er sehr pünktlich. Aber er kam. Mit ein wenig Verspätung. Schnell seine Sachen in mein Auto geladen und nach ein paar Minuten waren wir am Sitz. Der Drilling kam an meine Schulter. Rucksack wollte er selbst tragen. Eine gefühlte Ewigkeit brauchten wir quer über die Wiese zum Sitz. Er ist eben nicht mehr der schnellste. An alles hatte ich gedacht. Zwei zusätzliche Sitzkissen für ihn, wegen den Schmerzen beim sitzen. Zielstock zum abstützen, wenn wir die nasse matschige Wiese hangabwärts und auch wieder rauf müssen. Eine Fleecedecke für lautloses auflegen.
Auf dem Sitz angekommen hätte ich gerne mein Gesicht selbst gesehen. Ich hatte den Stuhl für mich auf dem Heckträger vergessen. Es war bereits Büchsenlicht. Schnell rannte ich die Wiese wieder hoch zum Auto. Mit dem Stuhl unterm Arm und der Wärmebildkamera am Auge wieder zurück. Ich hatte Panik, dass genau jetzt ein Hirsch den Wechsel annehmen würde der 30 Meter am Sitz vorbeiführte während ich diesen queren musste. Aber es ging gut. Kein Damwild zu sehen.
Wir richteten uns ein. Es wurde heller. Plötzlich Damwild vor uns am Waldrand. Kommt schon ein Hirsch? Das Licht würde noch nicht zum sicheren ansprechen reichen. Aber es war "nur" ein Stück Kahlwild. Vielleicht auch ein schwacher Spießer. Ich erkannte es nicht genau. Das Stück nahm auch nicht den Wechsel an. Es verschwand wieder im Wald.
Dann tat sich nichts mehr. Gar nichts.
Die Uhr zeigte 08:00. Gestern war um diese Zeit bereits der erste Hirsch durch. Sollten wir heute wieder einmal Pech haben?
"Mit mir wird das nichts. Ich hab immer Pech mein Sohn." Wie oft hatte ich diesen Satz schon gehört. Jetzt wieder. Ich machte ihm Mut. Zeigte ihm die Bilder der Wildkamera. Bis 09:00 Uhr wollten wir sitzen bleiben. Die Knochen schmerzten schon.
Gegen 08:30 Uhr hört ich plötzlich einen Hirsch brunften. Hinter uns. Wahrscheinlich in der nächsten Schlucht. Ungefähr 500 Meter entfernt. Die Wahrscheinlichkeit war da, dass er denn Wechsel annimmt und vor uns ins Holz ziehen möchte. Aber wann? Die Hirsche ziehen den ganzen Tag. Das könnte genau so gut gegen 12 Uhr Mittag sein. Aber eine halbe Stunden hatten wir ja noch.
Um 08:50 Uhr:
"Lass uns packen, lass uns nach Hause fahren!"
"Komm Papa, noch 10 Minuten. Wie abgemacht. Dann fahren wir."
Und so war es dann auch. Um Punkt 0900 Uhr kam die Patrone aus dem Drilling. Thermoskanne und Brotbox waren schon im Rucksack. Jacke ebenfalls. Die brauchten wir gar nicht. Hatte um die 12 Grad.
Mein Vater stand schon. Wollte gerade die Tür aufmachen, da schaute ich ein letzten mal nach hinten Links zur Schlucht auf den Wechsel.
Hirsch! Da stand auf 40 Meter ein Hirsch und äugte mich an. Ich wagte mich nicht zu bewegen. Suchte mit meiner rechten Hand nach meinem Vater und drückte ihn zurück in den Stuhl. Der verstand nicht so recht was ich wollte. Aber sah dann den Hirsch. Eine, vielleicht zwei Minuten vergingen und der Hirsch trat ein paar Schritt nach vorne und äste. Drilling leise öffnen, Kugel rein, schließen. Mein Vater wollte nach hinten links schießen. Saß aber rechts von mir. Ich hatte Angst, dass er uns mitbekommen würde. Also entschied ich, darauf vertrauend, dass der Hirsch den Wechsel quer über die Wiese nehmen würde, dass mein Vater den Drilling vorne raus nimmt.
Jetzt hatte ich Zeit den Hirsch anzusprechen. Läufe fast mittig unter dem Wildkörper. Schwache rechte Schaufel. Mittelsprossen schon nach oben gewandert. Rosen fallen zur Seite. Augsprossen nicht mehr ganz so stark gebogen und ein Haupt als wenn er "gegen die Wand gelaufen ist". Ok, der passt. Ich schätze ihn auf den 8-9 Kopf. Selbst wenn er ein Jahr jünger sein sollte, die rechte Schaufel machte ihn meiner Auffassung nach zu einem B-Hirsch.
Der Hirsch zog jetzt weiter. "Der passt! Schieß!", flüsterte ich meinem Vater zu. Ich merkte plötzlich wie ich richtig nervös wurde. Jagdfieber ließ meine Hände zittern. Das hatte ich so stark noch nie. Nichtmal bei meinen eigenen Hirschen.
"Möööp" machte ich. Der Hirsch reagierte nicht. Zog weiter. Lauter! "MÖÖÖÖÖP!"
Der Hirsch verhoffte, ich schaute zu meinem Vater, sah wie der Zeigefinger sich krümmte, es knallte. Ich nahm das Doppelglas hoch. Der Hirsch flüchtete von uns weg. Lungenschweiß auf der Ausschussseite. Aber warum ist der so schnell? Fall um! Fall um!
Er fiel. Mit einem sauberen Schuss hinter die Blätter. Kurzes Schlegeln. Dann Ruhe. Noch nie in meinem Leben habe ich mich jagdlich so sehr gefreut.