Aus "Kaliber und Geschosse", Agrarbuch-Verlag. Scanfehler habe ich drin gelassen.
Ausblick - hülsenlose Munition
Auf militärischem Gebiet wird die Entwicklung hülsenloser Patronen und dazugehöriger Waffen schon seit Jahrzehnten betrieben. Am bekanntesten dürfte auf diesem Gebiet das Gewehr Gll sein. Die Firma Heckler & Koch entwickelte diese Waffe bis zur Serienreife, und von der Dynamit Nobel AG stammt die dazugehörige Patrone Kaliber 4,92 x 34 DN 11.
Bereits während des Zweiten Weltkrieges beschäftigten sich die Deutschen mit hülsenloser Munition. Deutsche Ingenieure waren an der Entwicklung einer hülsenlosen Patrone bei CETME (Centro Estudios Technico de Materiales Especiales) in Madrid beteiligt. Ansonsten kamen Entwicklungen wie beispielsweise von Hercules, USA, nicht über Laborversuche hinaus. Wie man weiß, wurde auch das Gll-Projekt verworfen.
Ganz ohne Probleme sind hülsenlose Patronen nicht. So soll sich eine Abhängigkeit von der Feuergeschwindigkeit ergeben. Es soll zu Selbstzündungen gekommen sein.
Bei herkömmlichen Patronen wird ein großer Teil der Hitze von der Hülse aufgenommen und beim Ausrepetieren von der Patronenlagerwandung genommen. Ferner ist die Gasabdichtung ein Problem. Das Waffensystem ist kompliziert und damit anfällig. Optimale Gasabdichtung kann man nur durch elektronische Zündung erreichen, da hier kein Piston für den Schlagbolzen erforderlich ist.
Es ergeben sich aber auch Probleme, die direkt bei der Patrone liegen. Eine Messinghülse übernimmt eine sehr gute Gasabdichtung und stellt ein optimales Pulververpackungsmittel dar. Sie ist hart und unempfindlich. Die Patronen werden weder beim Transport noch in der Waffe oder in der Hosentasche beschädigt. Sie sind robust. Weiters kann in der Regel keine Luft und keine Feuchtigkeit ins Hülseninnere eindringen. Sie sind also relativ klimaunempfindlich.
Das Pulver hülsenloser Patronen ist im Prinzip ein nicht besonders festes Plastik. Es kann leicht reißen oder brechen. Militärische Tests haben gezeigt, dass es auch klimaempfindlich sein kann. Feuchtigkeit kann die Ballistik erheblich verändern. Daraus ergeben sich Transport- und Handhabungsprobleme.
Beim Gll löste man das Problem damit, dass es nur aufmunitionierte Magazine geben sollte. Geschosse in Hülsen werden zur Laufbohrung optimal zentriert. Es ergibt sich ein vorteilhafter Druckaufbau. Hülsenlose Patronen sind leichter, da sie auf die „überflüssigen" Hülsen verzichten. Voere bezeichnet die 5,7 x 26 als Usel-case-less-cartridge (UCC; usel = techn. Laboratorien). Das Kaliber ist 5,7 Millimeter (genau genommen ist es ein .22er-Geschoss mit Kaliber .224 Zoll = 5,69 Millimeter), und die Treibsatzlänge ist 26 Millimeter. Vorne steckt im Pulver ein 55 Grains (= 3,56 Gramm) schweres Teilmantelgeschoss. Vermutlich ist es ein Nosler-Geschoss. Das Nitrozellulosepulver wurde in eine feste Form (durch Binder) gebracht. Durch den Prozess kann das Abbrandverhalten der Nitrozellulose gesteuert werden.
Durch einen Überzug will man Unempfindlichkeit gegenüber Wasser, Feuchtigkeit und Waffenöl erreicht haben. Nach einem vierstündigen Wasserbad war die Patrone tatsächlich nicht verändert. Trockengewischt, und man konnte sie verschießen. Der Treibsatz kann durch mechanische Einflüsse zwar zerstört, aber nicht zur Explosion gebracht werden. Im offenen Feuer würde er langsam verbrennen.
Die Zündung der Patrone erfolgt durch den Zener-Effekt eines neuentwickelten Halbleiterelementes . Das Halbleiterelement im Hülsenboden weist bis zum gleichzeitigen Anliegen einer Mindestspannung (30 Volt) und eines Mindeststromes (Stromstärke 500 mA) einen hohen elektrischen Widerstand auf, der sich bei gleichzeitigem Anliegen von Durchgangsspannung und Durchgangsstrom schlagartig verringert. Dadurch wird der Zünder augenblicklich aktiviert und der Schuss verzögerungsfrei ausgelöst. Das Halbleiterelement ist unempfindlich gegen Leck- oder Kriechströme, wie sie bei
Funktionsstörungen der Waffe auftreten könnten, genauso wie es gegen statische Elektrizität unempfindlich sein soll. Es kann auch nicht durch mechanische Bearbeitung zur Zündung gebracht werden.
Dieser Anzünder im Patronenboden verbrennt natürlich vollständig. Vor ihm liegt ein Hohlraum. Dadurch wird optimaler Abbrand des Pulvers ermöglicht. Die VQ wird mit 1000 Meter/Sekunde angegeben, was eine Energie von 1780 Joule ergibt. Gemessen wurde eine V^ von durchschnittlich 930 Meter/Sekunde, was eine Energie von 1540 Joule ergibt.
Inzwischen gibt es von Voere auch hülsenlose 6-mm-Patronen, die für die Gamsjagd ideal sind. Oben: alte und „neue" Elektronik des Voere-Repetierers. Unten: Vom Expansionsraum im Patronenlager ist die Präzision abhängig (Verschluss mit hülsenloser Patrone).
Der Repetierer Voere Electronic Caseless 91 (VEC 91) wurde im Jahre 1991 am Markt eingeführt. Die Waffe ist erstklassig verarbeitet. Der frei schwingende Lauf ist 510 Millimeter lang. Er beinhaltet das Patronenlager für die kurze Patrone. Die geometrische Form des Patronenlagers ist speziell auf die Abbrandcharakteristik der hülsenlosen Patrone abgestimmt. Es soll dadurch ein optimaler Verlauf der Gasdruckkurve bewirkt werden. Die Systemhülse ist bis auf ein kleines Ladefenster und den Durchbruch fürs Magazin größtmöglich geschlossen. Mit etwas Fingerakrobatik kann man durch das Fenster eine Patrone schieben.
Verriegelt wird mit einem speziellen 2-Warzen-Riegelverschluss unmittelbar hinter dem Patronenlager in der Hülse.
Auffallend ist der dünne Kammerzylinder. Die Kammer hat einen Öffnungswinkel von etwa 90 Grad. Der an der Kammer angebrachte Kammerstängel ist in flacher, geschwungener Form gehalten und nicht besonders griffig.
Eine spezielle Dichtung muss die Dichtfunktion der Patronenhülse übernehmen. Von einem speziellen Dichtelement im Kammerkopf wird die Patrone umschlossen. Das konische Abdichtungsstück legt sich gegen einen formmäßig dazu passenden Stahlring im Lauf. Es liegt elastisch vor vorgespannt am Patronenlager an. Durch die Vorspannung arbeitet die Dichtung verzögerungsfrei. Laborversuche haben gezeigt, dass bei Überlastung eher der Lauf Risse bekommt, als dass das Dichtelement undicht würde. Zudem wurde aus Sicherheitsgründen ein zweites, mit dem Verschluss rotierendes Schutzschild im Bereich der Riegelwarzen angebracht. Seitliche Entlastungsbohrungen zwischen erstem und zweitem Dichtelement würden bei Bedarf für eine Druckentlastung sorgen. Zusätzlich sind die Warzen vorne stark abgeschrägt, um die Gase bei Bedarf seitlich umzuleiten. Der Sicherheit wird also Genüge geleistet.
Die Patrone wird vom Kammerkopf aufgenommen. Das hintere Patronenende wird von einem Bund am Kammerkopf umgeben. Zwei seitlich darüber hinausragende Stege dienen zur Patronenführung und zum Patronenausziehen. Sollte man nicht zu Schuss kommen, so wird beim Öffnen des Verschlusses die Patrone mit zurückgezogen und kann entnommen werden. Einen Auswerfer hat das System nicht. Die Waffe ist mit einem zweireihigen, fünf Patronen fassenden Einsteckmagazin ausgestattet. Die Patrone wird elektronisch gezündet. Dazu wurde der elektronische Druckpunktabzug konstruiert. Er kann von 1,5 N (150 Gramm) bis 30 N (3 Kilogramm) mittels einer Schraube im Widerstand justiert werden. Durch den Anstieg des Abzugsdruckes auf das eingestellte Maß wird der Schuss ausgelöst. Es entfallen Bewegungen, übertragende Momente und zeitliche Verzögerungen mechanischer Abzüge. Die Elektronik ermöglicht eine erschütterungsund verzögerungsfreie Schussauslösung. Nach dem Auslösen des Schusses durch Abziehen wird die Patrone praktisch ohne Verzögerung gezündet. Dies bringt natürlich beim Schießen Vorteile. Züngel und Abzugshebel befinden sich im Massengleichgewicht. Gegen den Abzugshebel wirkt die Federkraft des Druckpunktabzuges. Daher ist ein unbeabsichtigtes Auslösen durch Fall oder Stoß ausgeschlossen. Mit dem Sicherungsschieber auf dem Schafthals wird die Spannungs- und Stromzufuhr zur Auslöser-Elektronik unterbrochen.
Im Pistolengriff sind zwei Batterien mit ä 15 Volt als Energiequelle feuchtigkeitsgeschützt untergebracht. Die Batterien sollen für 5000 Schuss reichen. Die Spannungsund Stromübertragung von Auslöser-Elektronik zur Patrone ist nur bei vollständig verriegeltem Verschluss möglich.
Nach dem Entsichern wird ein Kondensator aufgeladen. Über ein Blech, auf das der Sicherungsschieber wirkt, werden dazu Mikroschalter aus- und eingeschaltet. Unter der Scheibe sind der Kondensator und drei Mikroschalter montiert. Durch ihn wird die Stromzufuhr zur Patrone bewirkt. Über Drähte wird der Strom an ein Leiterelement weitergegeben, das in die Hülse reicht und dort auf ein Leiterelement in der Kammer trifft. So wird der Strom bis zum Kontakt stift im „Stoßboden" geleitet. Natürlich muss bei Elektronik mit Schaltern, Drähten und Lötstellen gearbeitet werden. Wie unempfindlich diese in langjähriger Jagdpraxis sind, bleibt dahingestellt.
Die Testerfahrung mit der 101 Zentimeter langen und 3,09 Kilogramm schweren Waffe (ohne Zielfernrohr) war alles andere als berauschend. Ohne Putzstock zum Patronenauswerfen konnte man nicht zum Schießstand fahren. Die Waffe liegt wunderbar in der Hand und ist auch sehr gut ausbalanciert. Der Abzug ist exzellent. Allerdings muss man sich an einen Druckpunktabzug bei der Jagd erst gewöhnen. Er ist für den ruhigen Präzisionsschuss geeignet, nicht aber für das schnelle und flüchtige Schießen.
Probleme gab es mit der Zuverlässigkeit der Waffe. Ab und zu wurde beim Repetieren keine Patrone aus dem Magazin aufgenommen und ins Patronenlager geschoben. Bei einer hohen Anzahl der zur Verfügung gestellten Patronen ließ der Verschluss sich nicht schließen. Die Patronen steckten im Patronenlager und ließen sich nicht mehr ausziehen. Auch durch das Aufstoßen der Waffe fielen sie nicht heraus. Sie mussten mit dem Putzstock jedesmal ausgestoßen werden. Der Grund hierfür konnte nicht endgültig geklärt werden. An den ziemlich maßhaltigen (in Länge und Stärke) Patronen lag es anscheinend nicht.
Vermutlich wurden die Patronen nicht richtig im Hülsenkopf aufgenommen und die seitlichen Auszieherstege ließen sich im Patronenlager nicht mehr über die Patrone schieben. Diese Vorfälle wären auf der Jagd sehr ärgerlich. Der Jäger kann eine solch große Unzuverlässigkeit der Patronenzufuhr nicht mehr tolerieren.
Auch die Schusspräzision war nicht berauschend. Die beste Fünf-Schuss-Gruppe auf 100 Meter betrug 3,5 Zentimeter. Streukreise um die vier Zentimeter wurden aber konstant gehalten.
Eine zweite Waffe wurde mit 100 Testpatronen gestellt. Sie funktionierte einwandfrei. Es gab keine Zufuhr- und Ausziehprobleme mehr. Bei der Zufuhr der Patrone brach aber deren Rand ab, und das Pulver setzte sich im Stoßboden fest. Damit konnte der Zündkontakt die Patrone nicht mehr erreichen und zünden. In der Praxis wäre das sicherlich ärgerlich, obwohl der Fehler im Handumdrehen beseitigt werden kann. Die Schussleistung war hervorragend. Streukreise von 1,5 Zentimetern waren die Regel (5 Schuss/100 Meter).
Sicherlich sind hülsenlose Patronen und elektronische Schussauslösung ein großer technischer Fortschritt. In militärischen und bestimmten sportlichen Bereichen mag das seine Vorteile haben. Bei der Jagd herrschen aber andere „Gesetze". Keinesfalls darf der Fortschritt mit einem Verlust an Zuverlässigkeit erkauft werden. Der Jäger benötigt ein robustes, möglichst klimaunabhängiges und zuverlässiges Werkzeug. Er führt beispielsweise Patronen in der Tasche. Bei den Testpatronen ist ein Pulvermantel gerissen, und bei einer Patrone ließ sich das Geschoss mit der Hand ausziehen.
Sicherlich mögen die Patronen auf die Waffe abgestimmt sein. Hinsichtlich hoher Präzision ist das keine Garantie. Erfahrungen haben gezeigt, dass nur das Probieren verschiedener Laborierungen zu optimaler Präzision verhilft. Andere Geschosse, anderes Pulver, andere Hülsen oder selbst anderes Zündhütchen führen sehr oft zu wesentlicher Präzisionssteigerung. Bei der angebotenen hülsenlosen Munition kann da nicht variiert werden. Der Markt kennt eine Jagd- und eine Sportlaborierung. Wieder- oder selberladen kann man die Patrone nicht. Eine Optimierung der Schussleistung — wie bei herkömmlicher Munition — ist über die Patrone nicht möglich. Hier muss man deutliche Abstriche machen.
Bei der Waffe muss wie bei einem herkömmlichen Repetierer repetiert werden. Das ist keinerlei Fortschritt. Es gibt lediglich keine herausfallende Hülse. Wenn schon Fortschritt, dann ist hülsenlose Munition nur in einem Halbautomaten sinnvoll. Zumal sie sich ja rückstandslos verschießt und es keine umherfliegenden und klappernden Hülsen gibt.
Gruß
Sven
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Online-Redakteur
WILD und HUND Online
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